Text von Sabine Arlitt zur Ausstellung "Emergenz der Dinge" in der art-station, Zürich, 2008
 

Emergenz der Dinge

Max Frey und Willi-Peter Hummel in der Galerie art station

 

Bilderwelten zwischen Potenzial und Entsagung

 

«Emergenz der Dinge» nennen Max Frey (*1949) und Willi-Peter Hummel (*1943) ihre gemeinsam bestrittene Ausstellung. Sie bewegen sich in verschiedenen Medien, der eine zeigt Fotografien und Objekte, der andere Bilder und Zeichnungen. Trotz eigenständiger Positionen ist eine unterschwellige Verbundenheit auszumachen. Die Arbeiten von Max Frey wie die von Willi-Peter Hummel entwickeln sich in der Zeit der Betrachtung. Erst im intensiven Schauen eröffnen sich jeweils neue Wirklichkeiten.

Als Begriff der neueren englischen Philosophie beschreibt «Emergenz», «dass höhere Seinsstufen durch neu auftauchende Qualitäten aus niederen entstehen».

 

 

Max Frey gibt seinen querformatigen Fotografien einen quadratischen Rahmen, um derart den Betrachter dafür zu sensibilisieren, sich bewusst auf jede einzelne Aufnahme einzulassen und ihr eine gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken. Er plädiert für ein langsames, ein zeitintensives Schauen. Gerüstartige Strukturen ziehen sich leitmotivisch durch sein Schaffen. Die Aussenhaut von Gebäuden interessiert ihn genauso wie das Innenleben von oftmals industriell genutzten Anlagen, sei es ein stillgelegtes Eisenwerk wie die «Ferro» in Wohlen, sei es ein Steinbruch wie der im ligurischen Pietra. Schuppen und Lagerhallen, im Trockendock liegende Schiffe und ausrangierte oder im Moment nicht aktivierte Geräte lassen an erfolgte oder potenzielle Zustandsänderungen denken.

 

Es herrscht zuweilen eine zeitlose Ruhe. Ein Gefühl von Dauer stellt sich ein: zeitübergreifend, urtümlich und dabei doch gleichzeitig lebendig und nah. Die Aufnahmen werden gleichsam zu Behältern, die in der langsamen Wahrnehmung noch nicht Beachtetes freigeben. Jeden Augenblick kann sich eine Veränderung im Bild ereignen.

 

Max Frey schafft meist mehrteilige Bildergruppen. Das konzeptuell begründete Nebeneinander der Fotografien innerhalb einer Serie lädt zwar zu vergleichenden und tendenziell filmisch erfahrbaren Wahrnehmungen ein, die aber immer wieder bewusst untergraben, ja angehalten werden. Das gleitende Fliessen wird unmerklich in eine an Ort ausgetragene Fokussierung überführt, die sich mehr und mehr in die Tiefe verlagert. Max Freys gesammelte Bilder dokumentieren keine Begebenheiten. Auf Reisen oder an gezielt aufgesuchten Orten entstehen keine Reportagen. Die Fotografien fördern in ihrer ausschnittartigen Offenheit vielmehr Gerüste für Geschichten zutage.

 

Bildtitel wie «Rad», «Fass» oder «Bank» eröffnen weit gespannte Zeiträume. Die uralten Dinge begleiten den Menschen seit langer Zeit. Dabei handelt es sich bei den benannten Gegenständen meist nur um ein Detail im fotografischen Ambiente. Der Mensch selbst tritt nie auf. Oft ziehen Leerstellen die Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Nichtvorhandensein von etwas ist als poetisches Moment wirksam. Jeder Mensch hat sein eigenes Raum- und Zeitempfinden und seine eigene Erinnerung. Das sensible Sicheinlassen auf die Fotografien von Max Frey bildet denn auch den zentralen Motor, um der Emergenz der Dinge eine Bühne zu geben. Es gilt die Rhythmen hinter den oberflächlichen Rhythmen zu entdecken.

 

«Schneefall» ist eine Form von Niederschlag. Meist dürr sind die Äste, wenn sie von den Bäumen abfallen und zum «Fallholz» werden. «Schneefall» und «Fallholz» sind ebenfalls Bildtitel in Max Freys Schaffen. Ein freies Spiel mit Worten ist angesagt, ein Spiel, das gleichzeitig auf noch unbesetztes Terrain verweist. Wahrnehmungsgrenzen werden im Stillen ausgereizt und ein höchst sensitiver Gang durch verschiedene Dichtegrade und Phasen der Bildentwicklung initiiert. Der Betrachter bewirkt das Bildgeschehen. Die Anlagen sind gegeben.

 

 Bei Willi-Peter Hummel, kurz wph, ist die Bildanlage immer schon Aktion. Er setzt die Malerei metaphorisch mit der Corrida gleich. Die Leinwand wird zur leidenschaftlich bespielten Arena für persönliche Empfindungen und Wahrnehmungen. wph malt und zeichnet, er radiert und schreibt auch. Doch er ist ein betont schweigsamer Schreiber. Er hält seine Worte bedacht zurück, vertraut sie vornehmlich Tagebüchern an, wobei ihm die blosse Schreibbewegung weit wichtiger ist als das Geschriebene selbst. Schreibend webt er Gespinste, im Grunde wechselwirksame Notationen.

 

Beim Schreiben konzentriert sich der Ausdruck auf die wahrnehmbaren Bewegungsimpulse. Auch im bildnerischen Schaffen ist das Bewegungsmoment von zentraler Bedeutung. Bei wph verbinden sich Analyse und Automatismus, Zufall und freie Assoziation, tänzerische Gestik und freies Variieren von Wahrgenommenem, seien es Beobachtungen im Alltag oder weit in die Kulturgeschichte der Menschheit zurückreichende Leistungen wie die Höhlenmalerei.

 

Malerei erscheint bei wph als «sprachlose» Schrift, als manifest gewordene Körperaktion und emotionale Spur. Was visuell reizt, ist das nicht Deutbare. Es ist der Spalt, den die Sprache nicht füllen kann und den das Unvorhersehbare, das unberechenbar Hervortretende, einnimmt. So sind die gestalthaltigen Zeichen in der Malerei und in den Zeichnungen von wph denn auch keine kürzelartigen Projektionen von optischen Erscheinungsbildern, sondern im malerischen Akt übertragene Erfahrungen und visualisierte Berührungen mit dem Bildgeschehen und aus ihm heraus.

 

Die Corrida entwickelt sich in verschiedenen Phasen, wobei der Torero in eine immer enger werdende, gefährlichere und reizintensivere Konfrontation mit dem Stier gerät und die von Tier und Mensch, Instinkt und Intellekt geformten Schritte und Figuren immer stärker auf den Kulminationspunkt zwischen Leben und Tod drängen. In den Bildern und Zeichnungen von wph spielen in Analogie dazu Verdichtung und Entladung eine tragende Rolle. So, wie sich Wellen überlagern, so, wie im Zusammenspiel von konstruktiver und destruktiver Interferenz schimmernde Interferenzmuster entstehen, so überlagern sich Energien im Zusammenwirken ineinander verwickelter Bildschichten.

Der zentrale Bezugspunkt bleibt der Mensch. Zuweilen scheinen grazile oder dynamisch geladene Bewegungslinien menschliche Umrisslinien einzuschliessen beziehungsweise freizugeben. Ritualisierte und tiefgreifend erotische Handlungen transportieren Energien, die als Seismogramme innerer und äusserer Bewegungen anklingen und dabei ihren emergenten, in neuer Qualität hochkommenden, Auftritt haben. Die Leinwand als Haut wird gleichsam zur Membran für durchlässige Berührungen. Ein offener dynamischer Prozess erzeugt das fluktuierende Empfinden für Raum und Zeit. Das facettierte Potenzial der meist ungrundierten Arbeiten von wph entspringt dabei einer höchst reduzierten Farbpalette. Es ist das Licht, das entscheidend und unfassbar in diese schwebend flüchtigen und dabei sinnlich präsenten Bilder eingreift, die einen lose verschlungenen Reigen von Phasen und Phasenübergängen bilden.

 

In einer Art Tanz führen Geist und Körper den Pinsel. Ein offenes Kooperieren bestimmt die Rhythmen der einzelnen Bilder, die gleich einem zusammengelegten Leporello in dichter Schichtung gedacht oder im Nebeneinander wie ein aufgespannter Fächer wahrgenommen werden können. wph experimentiert zuweilen mit übereinander gelegten Gewebeschichten, durch die im Zwischenraum aufgetragene Farbe drückt. Oder er verwendet Quarzsand, um das Licht zur Beugung zu drängen. Der Torero hat seine Capa, den roten Umhang. wph nutzt das Reizpotenzial bildnerischer Schichten.

(Text: Sabine Arlitt)