Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juni, 2001

Gerade noch Moderner

Spätwerk in der Frühe der Gegenwart: Eine Tagung untersucht die Nähe Theodor Fontanes zur Literatur der Jahrhundertwende


Theodor Fontane gelangte erst spät, sehr spät zu literarischer Meisterschaft. Gerade als er selber, schon in den Siebzigern, seine großen Themen und die ange-messene Romanform gefunden hatte, galt sein Spott  Frühvollendeten wie Paul Heyse über den er schrieb: „Das kommt davon, wenn man mit 18 fertig ist und kein Wort Kritik ertragen kann". Das war 1889, als Hugo von Hofmannsthal, der künf-tige Liebling der literarischen Szene, gerade fünfzehn geworden war. Einige Jahre später hätte man in dem Ausspruch vielleicht einen Seitenhieb auf diesen Shooting-Star der frühen neunziger Jahre herausgehört.
   Das Spätwerk Fontanes reagiert sehr wach auf die Tendenzen der Epoche. Es ist daher keineswegs gesucht, wenn sich die Frühjahrstagung der  Theodor-Fontane-Gesellschaft in München dem Verhältnis des Schriftstellers zur Literatur der Jahr-hundertwende widmete. [...]
   Höhepunkt der Tagung war aber nicht dieses überraschende déja vu, sondern ein kleiner Einblick in den aufsehenerregenden Fund von fünfzig unbekannten Fontane-Briefen im neuentdeckten Nachlaß seiner Tochter Martha, genannt „Mete" (F.A.Z. vom 19. April). Thomas Mann schrieb 1910 in seinem berühmten Aufsatz „Der alte Fontane" aus Anlaß des Erscheinens der „Briefe an die Freunde": „Sind noch mehr da? Man soll sie herausgeben". Dieses Wort ist im doppelten Sinne zu verstehen, denn bevor die Wissenschaft ihr editorisches Werk verrichten kann, müssen Besit-zer ausfindig gemacht und überzeugt werden. Nach dem Nachlaß Marthas fahndete schon mancher, aber erst die Beharrlichkeit Regina Dieterles war von Erfolg ge-krönt. Zwar mußte die Finderin zu hohe Erwartungen dämpfen, die Briefe an den Architekten K. E. O. Fritsch und dessen Frau Anna Fritsch-Köhne seien kaum von essayistischem Charakter - die Fritschs wohnten um die Ecke, so daß  man sich keine Romane schreiben, sondern sie sich lediglich widmen mußte. Über das für Fontanes Biographie und die  Genese des  Spätwerks bedeutsame Verhältnis der Familien zueinander (Fontane war ein Bewunderer Annas, die Effi Briest Patin stand; nach ihrem frühen Tod verlobte sich Karl mit Mete) geben die Briefe aber interessante Auskünfte.
   Ein Teil der Briefe wird im Herbst im Rahmen von Dieterles Darstellung des „Familienbriefnetzes" der Fontanes erscheinen, aus der wir hier einen bisher unveröffentlichten Brief Marthas über das Sterben ihres Vaters Vorabdrucken. Thomas Mann spürte bei keinem Autor außer Fontane „dies unmittelbare und instinktmäßige Entzücken, diese unmittelbare Erheiterung, Erwärmung, Befriedi-gung, (...) die ich bei jedem Vers, jeder Briefzeile, jedem Dialogfetzchen von ihm empfinde". Insofern bleibt zu hoffen, daß sich auch für den gesamten Fund noch ein wagemutiger Verlag findet.

RICHARD KÄMMERLINGS